In der Ausstellung „Mit Richard unterwegs“ blättert sich ein ganzes Künstlerleben auf. Die Arbeiten auf Papier von 1995 bis 2015 beziehen sich auf Georg Baselitz` Biografie als Teil der gesamtdeutschen Geschichte vom Zweiten Weltkrieg über den Aufbruch der Nachkriegszeit und das geteilte Deutschland bis heute. Er beschäftigt sich mit den politischen und gesellschaftspolitischen Ereignissen und Verwerfungen seiner Zeit. So sind die Grafiken neben der historischen Auseinandersetzung auch eine Rückschau auf die Herkunft des Künstlers und alles, was sein Leben prägte. Er befasst sich mit vertrauten Sujets aus der eigenen Umgebung wie Portrait, Figur, Landschaft und Tierdarstellung. Seine Kunst ist somit auch immer die Auseinandersetzung mit der so genannten heilen Welt.
Hans-Georg Kern, der seit 1961 den Namen Baselitz trägt, wurde am 23. Januar 1938 im sächsischen Deutschbaselitz geboren. 1956 begann er sein Studium an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst in Ostberlin, wurde jedoch nach zwei Semestern wegen „gesellschaftspolitischer Unreife“ der Schule verwiesen. Er setzte das Studium der Malerei ab 1957 in Westberlin fort und schloss 1962 mit dem Meisterschüler-Diplom ab. Die erste Einzelausstellung hatte Baselitz 1963 in der Galerie Werner & Katz, die zu einem Skandal führte und mit der Beschlagnahme von zwei Gemälden endete.
Erst hatte er den Krieg unter dem Nationalsozialismus erlebt, dann den Fortschritt verheißenden Sozialismus. In der spießigen und reaktionären Welt Westdeutschlands, in der die ehemaligen nationalsozialistischen Funktionäre und Sympathisanten an vielen wichtigen Schaltstellen weiterhin politischen und wirtschaftlichen Einfluss nahmen, rebellierte er mit seiner radikalen Kunst. 1969 malte Georg Baselitz das erste Bild mit dem Motiv auf dem Kopf. Seitdem dreht er das fertige Bild nicht einfach um, sondern malt verkehrt herum. Das Umdrehen des Motivs bedeutete damals den konsequenten Bruch mit dem Gewohnten und ist die Aufforderung, bestehende Sehgewohnheiten aufzugeben, um ein Bild neu zu bewerten. Die veränderte Position zwingt den Betrachter zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Inhalt.
1976 fand die erste Retrospektive in der Staatsgalerie moderner Kunst in München statt. 1978 erhielt Baselitz die Professur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. 1986 wurde er mit dem Kaiserring der Stadt Goslar geehrt und erhielt 2004 schließlich die höchstdotierte Auszeichnung für Kunst, den Praemium Imperiale, in Tokyo. Baselitz geht es heute wie zu Beginn seiner Karriere darum, Werke zu schaffen, die den Betrachter herausfordern: „Wenn ich ein Bild mache, entwerfe ich ein neues Ornament. Um aufzuregen, damit im Kopf wieder etwas stattfindet. Um den müden Augen neue Wege zu zeigen.“
Die Sehnsucht nach einer besseren Ordnung
Der Titel „Mit Richard unterwegs“ spielt auf Richard Wagner, Karl May und die aktuelle Bedeutung der von ihnen beschworenen Werte an. Beide wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Sachsen geboren, beide waren Pioniere und als Schöpfer faszinierender Welten auf ihrem Gebiet einzigartig. Die Arbeiten dieser Ausstellungen demaskieren die Sehnsucht nach den alten, verloren geglaubten Tugenden, Heldenmythen und die Suche nach einer neuen und besseren Ordnung. Diese Sehnsucht ist so stark in unserem kollektiven Gedächtnis verwurzelt, dass die von Richard Wagner und Karl May in ihren Werken idealisierten Werte auch nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch untrennbar zur deutschen Kulturgeschichte gehören. Insofern steht Georg Baselitz‘ kraftvolle und kontroverse Kunst in einer facettenreichen Stadt wie Dachau auch im Spannungsfeld der Zeitgeschichte.
Die Ausstellung von Georg Baselitz stellt einen Glanzpunkt für die Volksbank Raiffeisenbank Dachau eG dar, die seit 2010 mit ihrer Reihe „Kunst und Bank“ Impulse im regionalen Kunstleben setzt. Für die Stadt und den Landkreis Dachau bedeutet Georg Baselitz` Ausstellung einen wegweisenden kulturellen Höhepunkt, der Maßstäbe setzt. Die Kunststadt Dachau rückt damit in den Fokus einer breiten, überregionalen Öffentlichkeit. Im Festsaal des Dachauer Schlosses treten durch die einzigartige Präsentation alte und zeitgenössische Kunst in einen Dialog. Unter der Renaissancedecke mit dem umlaufenden Götterfries entwickeln die großformatigen Linolschnitte eine allgemeingültige überirdische Kraft.